Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – La clemenza di Tito (2024)

Die Bühne des ehwürdigen Grand Théâtre de Genève ist so vollgemüllt wie mutmaßlich noch nie zuvor. Eine Wohnwagensiedlung, in der sich Flüchtlinge niedergelassen haben, ziert die eine Hälfte der Drehbühne mit möglichst viel buntem Elend. Auf der anderen Seite hat Anton Lukas ein Haus der Kunst gebaut, einen Hort der wohlsortierten Bürgerlichkeit, in dem die offizielle Personnage von Mozarts „La Clemenza di Tito“ residiert. Zwei gesellschaftliche Welten also präsentiert Milo Rau bei seinem Debüt in den für ihn fremden Gefilden der Oper, zwei Welten, die im wahren Leben sonst gern eher strikt nebeneinander her existieren – selbst im feinen, teuren, blitzsauberen Genf mit seinen vor goldenen Uhren nur so blitzenden Einkaufsmeilen, seiner Vorzeigeidylle entlang des Sees, seinem Traumblick aufs Gebirge. Auch hier leben Geflüchtete, auch hier gibt es eine Unterschicht in grautristen Plattenbauten. Auch diese auf den ersten Blick so schöne heile Welt – sie ist gespalten.

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Auch mal den Finger in die Wunden dieser Welt legen

© Carole Parodi

Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – La clemenza di Tito (1)

Intendant Aviel Cahn, der gleich nach seiner Antrittssaison (in der er pandemiebedingt gar nicht alle Premierenpläne in die Tat umsetzen konnte) das Opernwelt-Votum „Opernhaus des Jahres“ einfahren konnte, er will nicht die kulinarischen Erwartungen an eine der Schönheit geweihte repräsentative Kunstform bedienen, wie es hier in der französischsprachigen Schweiz sehr wohl üblich war. Er will auch mal den Finger in die Wunden dieser Welt legen, Widersprüche wahrnehmbar machen – und dennoch „Hoffnung wagen“, also dem Theater seine Aufgabe als moralischer Anstalt sehr wohl abfordern. Dem Intendanten wie seinem Debütanten am Regiepult geht es dabei nicht um plumpe Provokation oder wohlfeile Kapitalismuskritik. Da wird nicht mal eben der Dekonstruktionshammer geschwungen, um den Abonennten ihre Weltsicht zu vermiesen.

Die virulente Problematik des Stücks

© Carole Parodi

Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – La clemenza di Tito (2)

Was jetzt auf der Bühne für Mozarts letzte Oper als sehr viel Trash daherkommt, hat nicht nur Methode, ist nicht nur Inszenierungs-System, ist nicht nur Zeitgeist-Projektion aufs hehre Werk, in der ein aufgeklärter Aristokrat seinen Mördern großmütig vergibt. Es reflektiert vielmehr die bei Mozart selbst längst virulente, wenngleich nicht ausgesprochene Problematik des Stücks. Denn Mozart schrieb ja seine Lobpreisung edler Tugenden der herrschenden Klasse im Angesichte der Französischen Revolution, die gerade alle alten Gewissheiten hinweggefegt hatte.

Milo Rau schärft nun die Werk-Brüche, wenn er sichtbar macht, wie geschickt Tito sich selbst inszeniert, die neuen Toleranzideale seiner Zeit flink aufgreift und sich zu nutze macht, indem er bürgerliche Freiheiten gewährt und dazu die Entlastungsfunktion der Kunst gezielt einsetzt. Rau erzählt da dann auch von der Geburt der bürgerlichen Kunst durch die Aneignung der revolutionären Werte. „Kunst ist Macht“ ist da im Hintergrund zu lesen. Joseph Beuys und Kaiser Tito scheinen verwandt. Und Vitellia sieht verdächtig nach Marina Abramovic aus, deren Welt und Kunst verschränkende performativen Aktionen hier nachgestellt werden.

Fiktion und Realität durchmischen sich

© Carole Parodi

Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – La clemenza di Tito (3)

Der Regisseur geht dann freilich den entscheidenden Schritt weiter, weil er als studierter Soziologe immer auch die Analyse und Kritik des eigenen Kunst-Tuns mitliefert, das seinen echten revolutionären Impetus längst eingebüßt hat. Die eigenen Kunstbehauptungen werden eben tagtäglich konterkariert durch die realen Katastrophen der gesellschaftlichen Realität. Also stellt er letztere mit auf die Bühne. Freilich nicht – wie so oft im zeitgenössischen Theater – als dekorative Zutat des „Als ob“, sondern mit echten Menschen mit Migrationshintergrund wie mit Behinderung, also mit Laiendarstellern, die von ihrem Schicksal dokumentarisch berichten und zudem ihre Musik in den Mozartkosmos integrieren. Fiktion und Realität durchmischen sich.

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Extrem und brutal – und dennoch nah an Mozart

© Carole Parodi

Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – La clemenza di Tito (4)

Dies hat auch Auswirkungen auf Mozarts Musik. Milo Rau erweist sich trotz Eingriffen in die Rezitative als respektvoll gegenüber den Arien und Duetten, die in erstaunlicher szenischer Ruhe und Intimität ihre Wirkung entfalten können: Die Schönheit der Koloraturen wird dabei indes gleichzeitig welthaltig, gleichsam wirklich. Opern-Künstlichkeit und Realität gehen eine sinnliche wie intellektuelle Melange ein. Wovon die formidablen Sänger profitieren – zumal die mit wunderbar reichen Mezzofarben und Affekten prunkende Anna Goryachova als Sesto und die mit furiosem Sopran-Aplomp fesselnde Serena Farnocchia als Vitellia. Bernard Richter gestaltet als Tito dramatisch flammende Rezitative, mit den agilen Tenorvertracktheiten der Arien muss der Schweizer auch mal kämpfen, was der Glaubwürdigkeit seiner Figur indes nur zu Gute kommt. Maxim Emelyanychev gibt am Pult des Orchestre de la Suisse Romande eine Art Currentzis-Wiedergänger. Deutlich, unsentimental, flott und hart klingt sein Mozart.

Die szenischen wie musikalischen Mittel mögen mitunter extrem und brutal sein, auch irritierend und verstörend. Doch in ihrer Dialektik sind sie dennoch nah an Mozart, dem Geist der Aufklärung und der schillernden Magie der Musik.

Die Streaming-Premiere ist auf der Homepage des Grand Théâtre de Genève noch bis 28.2. nachzusehen.

Grand Théâtre de Genève
Mozart: La clemenza di Tito

Maxim Emelyanychev (Leitung), Milo Rau (Regie), Anton Lukas (Bühne), Ottavia Castellotti (Kostüm), Jürgen Kolb (Licht), Moritz von Dunger (Video), Clara Pons (Dramaturgie), Bernard Richter, Serena Farnocchia, Anna Goryachova, Marie Lys, Cecilia Molinari, Justin Hopkins, Chœur du Grand Théâtre de Genève, Orchestre de la Suisse Romande

Opern-Kritik: Grand Théâtre de Genève – La clemenza di Tito (2024)
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